Im Gespräch: Agnes Braun-Conzelmann und Rita Fink

Ein zweifaches Firmenjubiläum in einem Monat – das gibt es selten. Unsere zwei Kolleginnen Agnes Braun-Conzelmann und Rita Fink sind bereits seit 40 bzw. 20 Jahren bei der Lebenshilfe Tübingen tätig.

Auf eine gemeinsame Feier mit dem ganzen Team mussten wir aufgrund der derzeitigen Corona-Situation leider verzichten. Dafür haben wir mit den beiden ein Interview geführt.

Agnes, Du bist jetzt unglaubliche 40 Jahre bei der Lebenshilfe Tübingen dabei und Du Rita seit stolzen 20 Jahren. Wie seid Ihr damals auf die Lebenshilfe aufmerksam geworden und was hat Euch dazu bewogen sich hier zu bewerben?

Agnes: Na ja, das war 1980 im Sommer, ich wollte in Reutlingen Soziale Arbeit studieren und hatte Warteplatz 282. Davor hatte ich berufliche Erfahrungen gesammelt als Heilerziehungspflegerin. Ich bewarb mich auf die neu ausgeschriebene Stelle. Meine Aufgabe war es, ein breites Freizeit- und Bildungsprogramm zu schaffen ähnlich einer Volkshochschule. Über regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit sollten für alle Projekte engagierte Student*innen und Tübinger*innen gefunden werden. Für mich ein super attraktives Angebot. Schon damals hatte die Lebenshilfe eine gleichberechtigte Sicht auf ihre Mitbürger*innen mit Behinderung. Die erste Ferienreise ging im Sommer 1981 nach Barsinghausen bei Hannover. Die 16 Teilnehmer*innen waren überwiegend jung und unternehmungslustig. Die 8 überwiegend studierenden Begleitpersonen waren voll Energie und Engagement. Und das im unbezahlten Ehrenamt für freie Kost und Logis. 21 Tage dauerten diese Reise. Kleine Selbstversorgungsteams arbeiteten im Dreitages-Turnus: einkaufen, kochen, spülen und putzen. Da mussten alle dazulernen.
Diese Reise war aufregend aber beeindruckend. Die Resonanz war ausgesprochen gut.

Rita: Direkt nach meinem Studium der Sozialen Arbeit habe ich die Stelle für den Bereich Wohnen für die Begleitung einer integrativen Wohngemeinschaft gelesen. Das fand ich sehr interessant und für mich passend, da ich im Erstberuf Heilerziehungspflegerin bin. Ich fand es spannend, was die Lebenshilfe alles integrativ, heute heißt es inklusiv, anbietet.

 

In den letzten 20 bzw. 40 Jahren hat sich in der Lebenshilfe unglaublich viel verändert. Wie empfindet Ihr den Wandel über die Jahre?

Agnes: Das stimmt. Weg von der zentralen Behinderten-Versorgung satt und sauber hin zu immer mehr Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung. Im Bereich Wohnen werden selbstverständlich Ziele fürs nächste Jahr gemeinsam mit den Assistenznehmer*innen erarbeitet. Der Arbeitsbereich Berufliche Qualifizierung wurde ein weiteres wichtiges Standbein bei der Lebenshilfe.
Die Lebenshilfe Tübingen ist dieser gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in großen Schritten vorangegangen. Erlebnisreiche Reisen, selbstbestimmtes Wohnen, ausgewählte Erwerbstätigkeit macht alle Menschen glücklicher. Viele Projekte der Lebenshilfe sind beeindruckend und machen mich stolz auf unseren Verein.

Rita: Während meinen 20 Jahren hat sich wirklich sehr viel verändert. Intern die Führungs- und Leitungsstruktur, mehrere Standort- und Bürowechsel und natürlich auch der Personenkreis. Begonnen habe ich als einzige Fachkraft im Wohnen und nun habe ich 16 KollegInnen!

 

In welcher Abteilung seid Ihr aktuell tätig und wie ist es dazu gekommen?

Agnes: Bis Dezember 1997 war ich im Bereich Freizeit- und Bildung tätig. Nach der Geburt unseres 3. Kindes forderte die Familie meine Anwesenheit. Danach gab es für mich die Möglichkeit in den neuen Bereich Wohnen einzusteigen. Der Assistenzbedarf ist bei jeder Persönlichkeit anders und findet im Wohnumfeld statt. Der Kontakt funktioniert nur auf Augenhöhe. Integration in die Gesellschaft ist schrittweise möglich und eines meiner Kernpunkte der Arbeit auch im Wohnen. Wer Freund*innen hat ist weniger allein und seltener einsam.  Sich regelmäßig gemeinsam mit der Frage zu beschäftigen: Was hilft den Assistenznehmer*innen weiter, besser im Leben zurecht zu kommen. Oder welche Maßnahmen führen zu mehr Zufriedenheit. Es ist eine selbstverantwortliche berufliche Tätigkeit und verlangt Weitsicht und Geduld.
Das Projekt „Workshop Schöner Wohnen“ ein Gruppenangebot, ist mein Steckenpferd. Organisiert mit Assistenznehmer*innen vom Wohnen fürs Wohnen. Es gab Stadterlebnisse mit den Themen „Reutlingen ist super“, „Rottenburg ist 1. Klasse“. Kann bei uns übrigens immer noch gebucht werden. Oder die alljährlichen „Workshop Schöner Wohnen Reisen“ nach Berlin, Kempten oder Worms waren ein wichtiges Gemeinschaftserlebnis der Gruppe und starker Motivator fürs Jahr.
Oder die Gruppe „Tübinger Kultur inklusiv“ , die es bei uns über zwei Jahre gab hat mir unglaublich Spaß gemacht. Sie wurde überwiegend getragen wurde von Teilnehmer*innen aus dem Bereich Wohnen.

Rita: Ich habe zu anfangs auch im damaligen sogenannten „Erwachsenbereich“ gearbeitet, machte auch wöchentlich einen Kurs, Cafesatz und Wochenenden. Je größer der Bereich Wohnen wurde, je weniger machte ich dort. Bis ich nur noch zu 100% im Wohnen arbeitete.

 

Was gefällt Euch am meisten an Eurem Beruf?

Agnes: Ich bin ein kommunikativer Menschen und deutlich mehr für die Gemeinschaft geschaffen.
Mir gefallen sowohl  Aktionen in der Gruppe, als auch Unterstützerin zu sein für viele Belange der Assistenznehmer*innen.
Kein Mensch kann was für seine Behinderung oder Erkrankung. Das Handicap sollte keine zentrale Bedeutung haben. Daran arbeiten wir. Mit einem Handicap oder einer Erkrankung zufrieden durchs Leben zu gehen ist eine große Lebensleistung. Davon kann man nur lernen.

Rita: Ich bin immer noch von der Vielseitigkeit meines/unseres Berufes fasziniert, so viele neue Einblicke, Themen, Lebensgeschichten…, ein ständiges dazu lernen. Ich lese immer noch gerne Fachliteratur, auch in meiner Freizeit.

 

Wie empfindet Ihr Eure Arbeit gerade jetzt in Corona-Zeiten – gibt es besondere Herausforderungen?

Agnes: Erst erlebten einige Assistenznehmer*innen Begeisterung für so viel Freizeit. Weg mit allem Stress. Nicht mehr früh aufstehen. Dann kam die anspruchsvolle Alltagsbewältigung. Kein gedeckter Tisch mehr. Einkaufen und kochen selbst erledigen. Persönliche Kontakte gestalten sich als schwierig. Das allein sein. Das Unvorstellbare mit diesem Virus und der Ansteckung. Es gibt keine*n der nicht total froh ist, wenn es vorbei ist.

Rita: Im Frühjahr machte es mir noch große Angst, da viele KlientInnen zur Risikogruppe gehören. In zwischen gehört es leider zum Alltag und durch die Hygienemaßnahmen können wir uns hoffentlich gegenseitig schützen. 

 

Ein schöner Moment oder ein Erlebnis an den Ihr Euch gerne zurückerinnert:

Agnes: Da fällt mir das Rathausgespräch am 11. Juni 1996 ein. Auf der Einladung von der 1. Bürgermeisterin Frau Steffen war zu lesen: „Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Stadt“, bitte tragen Sie ihre Ideen und Stolpersteine vor. Vertreter*innen aller Fraktionen und der Presse waren die Zuhörer*innen.  Über 90 Landkreisbürger*innen mit Behinderung und Ehrenamtliche nahm an der Einladung teil. Eine logistische Höchstleistung. Auf Plakaten waren unter verschiedenen Themen – Stadtgestaltung und Stadtplanung oder Wohnen oder Freizeitgestaltung oder kostenloser Nahverkehr -  die Zitate und Forderungen der Mitbürger*innen mit Behinderung nachzulesen. Am Mikrofon standen Menschen mit Behinderung und trugen ihre Interessen vor. Wir wurden zum Stadtgespräch. Und manches änderte sich auch.

Rita: Auf eins kann ich mich nicht begrenzen. Es gibt sehr viele. Die Begegnungen, die Freude, das Vertrauen, dass man mir schenkt, die Dankbarkeit für mein Tun.

 

Was könnt Ihr unseren Azubis und neuen Mitarbeitern auf den Weg mitgeben?

Agnes: Engagement für und mit Persönlichkeiten mit Behinderung ist einerseits ein soziales Engagement andererseits auch eine Bereicherung für die eigene Persönlichkeitsprägung.
Es ist sinnvolle Arbeit, hat Spaß Faktor und bietet einen erlebnisreichen Alltag.

Rita: Die Lebenshilfe bietet sehr viel. Durch die Vielfalt der Angebote gibt es auch eine große Vielseitigkeit bei der Arbeit. Am Anfang ist es natürlich schwer Alles zu überblicken, aber alle KollegInnen unterstützen gerne. Es braucht einfach Zeit, und es gibt auch für mich immer wieder Neues, was ich noch nicht wusste.

 

Agnes, noch ein Abschlusswort?

Agnes: Für das was ich bei der Lebenshilfe alles erlebt habe, sind 40 Jahre nicht lange. Es wurde mir fast nie langweilig. Die sinnvollen Arbeiten gingen nie aus. Tiefe Freundschaften und Partnerschaften entstanden beim Lebenshilfe – Engagement, auf Reisen, in Gruppen unter Kolleg*innen. Auch davon gibt es viel zu berichten. Einen großen Lebenshilfe-Dank an alle meine Unterstützer*innen und Begleiter*innen mit und ohne Behinderung.

 

Liebe Agnes, liebe Rita, vielen herzlichen Dank für die Zeit die Ihr Euch für das Interview genommen habt!

Das Interview führte Johanna Kreutmayr – Öffentlichkeitsarbeit Lebenshilfe Tübingen e.V.